Bac allemand es s lv1 texte 1
Als es die Mauer noch nicht gab, gingen meine Mutter und ich einmal mit einem bezahlten Schleuser1 in den Westen. Zuerst trampten2 wir nach Weilheim, später noch in den Norden nach Lübeck, wo sie mit ihren Eltern gewohnt hatte, bevor sie meinen Vater kennenlernte. Dabei durfte ich mit Erstaunen feststellen, dass meine Mutter Chancen bei anderen Männern hatte. Von einem Amerikaner, der uns mitnahm, erhielt sie sogar einen Heiratsantrag. Er war ein höherer Offizier und nannte mich „little boy“. Wir sollten bei ihm bleiben, so wünschte er es sich, und zusammen in die Vereinigten Staaten ziehen. Ich will nicht behaupten, dass meine Mutter bei diesem Angebot ins Wanken geriet3. Doch sie merkte, dass es noch andere Optionen im Leben gab, und hinzu kam, dass es ihr im Westen besser gefiel als im Osten. Wir sind aber zu meinem Vater zurückgekehrt. Wieder zu Hause, drängte4 meine Mutter ihren Mann: „Du kannst doch auch drüben etwas finden. Wir suchen uns dort eine neue Arbeit.“ In dieser Zeit, den fünfziger Jahren, hätte man noch ohne größere
Probleme gehen können. Und viele taten dies auch. Aber meine Mutter konnte meinen Vater nicht dazu bewegen, etwas Neues anzupacken. Er ließ sich nicht verpflanzen.
Der Westen, das bedeutete für meine Mutter: Die Menschen, die dort leben, können machen, was sie wollen. Die können ihre Entscheidungen selbst treffen, überall hinreisen. Ihre Sehnsucht, andere
Länder kennenzulernen, machte ich zu meiner eigenen. Nach aktuellem Stand habe ich über siebzig verschiedene Länder besucht – als wenn ich es für sie getan hätte.
1 der Schleuser :le passeur
2 trampen : faire du stop
3 ins Wanken geraten (ä, ie, a): être déstabilisé
4 jn drängen etwas zu tun: pousser/inciter qn à faire